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Am 1. Januar 2009 schränkte der russische Energiekonzern Gazprom Gaslieferungen für die Ukraine ein. Die Begründung: Die Ukraine habe weder ihre Rechnungen für 2008 bezahlt noch fällige Mahngebühren für verspätete Zahlungen. Außerdem gebe es keine Vereinbarung über die Gaspreise im Jahr 2009. Nachdem die Ukraine Gas als Entgelt für Transitgebühren abgezweigt hatte, verordnete Ministerpräsident Wladimir Putin jetzt den totalen Lieferstopp.
Dass Gazprom dermaßen reagiert, ist keine wirkliche Überraschung. Russlands Vertreter haben wiederholt Warnungen ausgestoßen. Gazprom hatte schon zuvor Gaslieferungen an diverse postsowjetische Kunden wie Estland, Lettland Litauen, Weißrussland, Ukraine, Moldawien, Georgien, Aserbeidschan und Armenien ausgesetzt. Die Ukraine hat dieses Schicksal bereits vor drei Jahren durchlebt. Gazprom ist notorisch bekannt für seine aggressive Monopolpreisbildung und seinen Mangel an Respekt für die Kunden.
Und dennoch ist es erstaunlich, dass Gazprom sich dazu hinreißen lässt, die Ukraine—immerhin einen seiner größten Abnehmer—so zu behandeln. Schließlich hatte die Ukraine zum 30. Dezember alle Gaslieferungen für 2008 bezahlt. Gleichwohl forderte Russland Mahngebühren von zunächst 450 Millionen Dollar und später von 614 Millionen Dollar ohne Erläuterung ein. Um die Weihnachtszeit, also bevor die bilateralen Verhandlungen kollabierten, stellte Gazprom sogar eine Webseite ins Netz, um die Ukraine zu diffamieren.
Der Handelskonflikt ist recht einfach: Ministerpräsident Putin hat der Ukraine öffentlich einen Gaspreis von 250 Dollar pro 1000 cbm Gas angeboten. Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko und seine Ministerpräsidentin Julia Timoschenko wollten den Preis am 1. 1. 2009 auf 201 Dollar drücken. 2008 musste die Ukraine noch 179,50 Dollar für die gleiche Menge zahlen. Ein weiterer Disput entfacht sich an den Transitgebühren, die Gazprom der Ukraine für die Weiterleitung der Gaslieferungen an Europa entrichtet. Derzeit liegt der Preis bei 1,70 Dollar pro 100 Kilometer Transitstrecke und 1000 cbm Gas. Die Ukraine will ihn auf zwei Dollar anheben.
Die überschaubaren handelspolitischen Streitigkeiten sollten sich lösen lassen. Der ukrainische Chef des staatlich kontrollierten Energiekonzerns Naftogaz, Oleh Dubyna, hat sich zu einem Gaspreis von 235 Dollar und zu Transitgebühren von 1,80 Dollar bereit erklärt. Schon Anfang Oktober 2008 hatten Putin und Timoschenko eine Absichtserklärung über russisch-ukrainische Gasbeziehungen unterzeichnet, wonach sich die Ukraine über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg westeuropäischen Preisen annähern würde. Danach sollten 50 Prozent in 2009, 75 Prozent in 2010 und 100 Prozent in 2011 erreicht werden. Da der gegenwärtige Preis für Europa bei 418 Dollar liegt, bewegten sich beide Parteien auf der gleichen Wellenlänge.
Aber der abrupte Stopp der russischen Lieferungen an die Ukraine angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Vertragsabschlusses legt die Schlussfolgerung nahe, dass die Gründe nicht allein handelspolitischer Natur sind. Die rhetorischen Breitseiten gegen die Ukraine von russischen Politikern, allen voran von Ministerpräsident Putin, bestärken diesen Verdacht.
Eine politische Erklärung dafür ist, dass der Kreml die Ukraine destabilisieren will. Er will demonstrieren, wie schädlich Demokratie für das slawische Land ist. Gleichzeitig bläst er ins patriotische Horn: "Die Ukrainer müssen zahlen." Russland wird von der internationalen Finanzkrise böse getroffen. Aber die einzige Legitimation für Putins autoritäre Führung ist hohes Wirtschaftswachstum. Putin hat sich einen schlechten Ruf damit erworben, Konflikte mit unabhängigen, demokratischen Nachbarstaaten vom Zaun zu brechen wie in Georgien, der Ukraine und Estland, jeweils aus anderen Gründen.
Eine weitere Erklärung ist, dass der Kreml RosUkrEnergo, das intransparente Handelsunternehmen, das turkmenisches Gas durch Pipelines von Gazprom an die Ukraine liefert, stützen will. RosUkrEnergo ist gleichermaßen wichtig für den Kreml, versorgt es doch einige hochrangige russische Vertreter mit beträchtlichen persönlichen Einkünften, und für die Finanzierung eines Großteils der ukrainischen Politik. Ministerpräsidentin Timoschenko hat sich für den Ausschluss von RosUkrEnergo starkgemacht. Ihr ist es gelungen, das Unternehmen weitgehend vom ukrainischen Markt zu verdrängen. Am 2. Oktober 2008 kam sie mit Putin überein, RosUkrEnergo vom russisch-ukrainischen Gashandel auszuschließen. Tatsächlich verfügt die Ukraine über keinerlei direkte Finanzbeziehungen zu Gazprom. Das macht die Behauptung, die Ukraine schulde dem Konzern Geld, so absurd.
Die Ukraine hat eine ziemlich starke Verhandlungsposition, da 80 Prozent der russischen Gasexporte nach Europa durch die Ukraine fließen. Eine wirkliche Alternative wird es auf Jahre hinaus nicht geben. Zudem decken die eigenen Reserven den heimischen Bedarf mehrerer Monate ab. Gazproms Missachtung der europäischen Abnehmer muss daher umso mehr verblüffen. Wegen der Unzuverlässigkeiten von Gazprom haben die Hauptabnehmer bereits Pufferlager eingerichtet, die die Versorgung der nächsten drei Monate sicherstellen.
Am erstaunlichsten in der ganzen Entwicklung ist die europäische Passivität, obwohl die EU 20 Prozent ihrer gesamten Gasbezüge durch die Ukraine erhält. Wie kann die EU es akzeptieren, dass ein korrupter Zwischenhändler wie RosUkrEnergo mit der europäischen Energiesicherheit spielt? Die EU darf nicht wie ein zerbrechliches Opfer auftreten. Sie muss die Rolle eines energischen Mittlers einnehmen, um den russisch-ukrainischen Gaskonflikt zu lösen und um schließlich eine zuverlässige Energiepolitik zu entwickeln.
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